Musik in der Begleitung am Lebensende

Musik in der Begleitung am Lebensende

Musiktherapie in Palliative Care

Die Kolibris, Beatles und Heidschi Bumbeidschi

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Ich klopfe an ihre Zimmertür auf der Palliativ-Station, um mich vorzustellen. Wir kennen uns noch nicht. Keine Reaktion. Behutsam öffne ich die Tür einen Spalt. Sie hat die Augen geschlossen, scheint ruhig zu schlafen. „Kommen Sie rein und singen Sie für mich", sagt sie unvermittelt. Ich betrete ihr Zimmer und entdecke, dass sie nicht allein ist. Ihr Mann und ihre Nichte sind zu Besuch. „Beatles" sagen alle, Beatles sei DIE Musik ihres Lebens. Beatles sollen es sein. Wir, die wir uns noch nie zuvor begegnet sind, knüpfen Kontakt über die Musik. Ein sehr schönes Beatles-Medley erklingt, Töne füllen den Raum, ich bin fasziniert, dass auch die junge Nichte so kraftvoll mitsingt und alle Songs zu kennen scheint. Dennoch – ich habe das Gefühl, ich erreiche sie nicht. Sie, um die es mir geht, sie in ihrem Bett. Als der Mann und die Nichte zu einem Kaffee aufbrechen, sagt sie genauso unvermittelt wie zum Beginn unserer Begegnung und ob ihres ebenfalls recht jungen Alters überraschend: „Aba Heidschi Bumbeidschi – kennen Sie das?!" „Ja", sage ich, „klar kenne ich das". „Können Sie das für mich sin- gen?" Klar kann ich das. Und da ist sie – eine unerklärliche Nähe, der Zauber der Musik mit all ihrer Bedeutung, die nur sie in diesem Bett ihr und der Situation zu geben vermag. Und dann erzählt sie: Wie gern sie Mutter geworden wäre, vom Abschied des Wunsches, eigene Kinder zu haben und vom bevorstehenden Abschied aus dieser Welt. Über ihrem Bett hängen zwei wunderschön bunte Kolibris aus Glas. Wer die mitgebracht hat, möchte ich wissen. „Meine Nichte", sagt sie. „Für die allerbeste Tante auf der ganzen Welt", sage ich. „Sie sind nicht Mutter geworden, aber Sie sind die aller- beste Tante, die man sich nur wünschen kann". Und dann lacht sie. Aba Heidschi Bumbeidschi.

Über Musik wird in den schwer kranken und sterbenden Menschen oftmals ein Interesse geweckt, den roten Faden des eigenen Lebens noch mal von einer anderen Seite aufzurollen, ihn wieder zu entdecken und in die Hand zu nehmen. Die Beschäftigung mit den unterschiedlichen Biografien der Menschen am Lebensende und ihren Verknüpfungen mit ihrer Musik ist immer eine Auseinandersetzung mit dem Leben in der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft. In der Momentaufnahme der Gegenwart entstehen Veränderungen der Lebenssituation, werden Fragen oder Gedanken, die uns umtreiben, sichtbar. Die Musik spannt dabei einen Bogen durch die Zeit und gibt der Lebensgeschichte eine Form und eine neue Gestalt.

Scheinbar ist es uns Menschen ein tiefes Bedürfnis, Erlebtes in Sinnzusam- menhänge zu stellen. Dies geschieht – wenn auch zunächst auf ganz unbewusster Ebene – in der Begegnung in dieser Geschichte. Aba Heidschi Bumbeidschi entspringt einer besonderen Lebenssituation (der Tatsache, dass sie keine eigenen Kinder bekommen hat), die nun im Prozess ihres Abschieds aus dieser Welt (also mit Blick auf ihren Horizont, ihre Zukunft) wieder bedeutsam wird. Die Erinnerung an dieses Wiegenlied ist Ausdruck des Wunsches, ihrer „Biografie“ eine neue Form zu geben, sie neu zu „schreiben“, in andere Zusammenhänge zu stellen, neu anzusehen.

Um noch einmal bei den Symbolen zu bleiben: Die Kolibris über ihrem Bett für die beste Tante der Welt gelten bei den Mayas als Boten einer neuen Welt. Die Mayas glauben, dass sie „aus der Zukunft in unsere Zeit gekommen sind, um Licht, Hoffnung und Liebe zu schenken und uns auf die neue Welt vorzubereiten. Sein Gesang sei eine „Melodie der Extase“. Ein Kolibri beinhaltet für die Maya die Fähigkeit, das Gute in jeder Situation zum Vorschein zu bringen.

Ich wüsste nicht, was diese Situation ihrer Lebensbilanzierung, ihrer Biographie in neuen Sinnzusammenhängen besser beschreibt. Sie ist nicht Mutter geworden, doch sie ist ganz sicher die beste Tante, die man sich wünschen kann. Aba Heidschi Bumbeidschi.

Die Pfadfinder

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Sie weiß, dass sie bald sterben wird. Ihre Familie und Freunde wissen es auch. Schwer aushaltbar ist sie dennoch, die Situation und manchmal auch die Begegnung mit ihr. Alle möchten alles richtig machen, gerade, weil sie nahezu ausschließlich mit den Augen kommunizieren kann. Sie versucht zu sprechen, ist aber aufgrund der Lähmungen durch das ALS kaum zu verstehen. Ihre Wünsche sprichwörtlich von den Augen abzulesen – das fällt uns allen gar nicht so leicht. Manchmal denke ich, sie möchte am liebsten ihre Ruhe haben – nicht dauernd ein Hörspiel hören, nicht immer zusehen, wie der Enkel der Freundin durch das Zimmer turnt. Und dann – dann denke ich genau das Gegenteil. Auch ich bin mittendrin in den Ambivalenzen der Familie, in ihrer ureigenen inneren Zerrissenheit mit allen Emotionen. Und mit Musik und ohne. Ich spüre meine Anspannung und auch, wie intensiv ich auf ihre Mimik achte, um kleinste Verände- rungen gut wahrnehmen zu können. Manchmal ist es einfach. Da sind ruhige Atmung und funkelnde Augen am Start, wenn ihr Mann von seiner Zeit als Förster und Jäger erzählt, alle im Raum Geschichten voll Jägerlatein auspacken und sämtliche Lieder zu dem Thema, die wir kennen, den Raum füllen. Manchmal ist es schwer, wenn alle Unsicherheiten, ihre und unsere, im Raum gefühlt Überhand nehmen oder sie etwas sagen möchte, was wir nicht verstehen. Ich ziehe meinen imaginären Hut vor ihrer Geduld mit uns. Und dann ist er da, der Tag, an dem deutlich wird, dass sie balder als bald sterben wird. Ihre Töchter sind da, stehen um ihr Bett, rahmen sie ein und alle drei – sie in ihrem Bett plus die jungen, erwachsenen Kinder – sehen strahlend schön aus. Eine andächtige Stille breitet sich aus. „Pfadfinder“ sagt sie leise, kaum hörbar. Ja – Pfadfinder, das waren sie alle. Die Töchter erzählen: Von dreckigen Hosen, die Mama kurzerhand nach den Tagen im Wald erst einmal mit dem Gartenschlauch ab- gespritzt hat. Vom Zeltlager, vom Singen am Lagerfeuer, von der besonderen Atmosphäre und was sie in ihrer Jugendzeit bei und durch die Pfadfinder gelernt haben. Ein Lächeln ist zu erkennen auf ihrem Gesicht, aber auch Unruhe. Sie möchte etwas sagen. „Pfadfinder-Lied“, ergänzt sie. „Aaaah, ich weiß“, ruft die jüngste Tochter und fragt,„‚Nehmt Abschied, Brüder!‘ meinst Du das?“ Sie blinzelt mit den Augen. Ja. Wir singen. Die andächtige Stille wandelt sich in einen andächtigen Gesang.
Glücklich und entspannt liegt sie da. Atmet seltener, jedoch nicht angestrengt. Die Mädchen erzählen, dass dieses Lied immer das letzte Lied vor dem Abschied im Zeltlager gewesen sei. Und dass noch etwas fehle. Ein Spruch, der zu diesem Lied und zu den Pfadfindern gehöre: „Wir lösen das Band unserer Hände, jedoch niemals das unserer Herzen.“

Als Gegenpol zu den Atmosphären am Bett, den erlebten Am- bivalenzen aller, als Gegenpol zum Erleben von Hilflosigkeit, Ohnmacht, unserer Angst vor Stille oder der Angst vor Über- forderung gestaltet sie ihren Abschied. Sie gestaltet ihn mit einem für alle vertrauten Ritual und im Vertrauen darauf, dass dieses Ritual von allen erkannt wird. Sie gestaltet ihn mit ihren Möglichkeiten. Sie gestaltet ihn mit ihren Möglichkeiten und das Gestalten ihres Abschieds ist ihr wichtig.
Wie hoch die Bedeutung dieses Aktes der Autonomie für sie ist, können wir nur erahnen.

For auld lang syne - wir lösen das Band unserer Hände, doch niemals das unserer Herzen.

Rocking around the christmas tree

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Wir sitzen an ihrem Bett auf der Palliativ-Station, ihr Vater und ich, wenige Tage vor Weihnachten. Es ist mild draußen. Sie macht sich auf den Weg zu ihrer letzten Reise, und er erinnert sich, formt und formuliert die inneren Bilder aus gemeinsam geteilter Lebenszeit. Das Weihnachtsfest haben wir immer geliebt, sagt er. Und dann wird es richtig laut in der Begegnung an ihrem Bett. 'Rocking around the christmas tree' ist einer ihrer Lieblingssongs. Der Vater singt mit kräftiger Stimme zu meiner Version mit dem Akkordeon, manchmal gibt`s Applaus von unterschiedlichen Ecken der Station. Es macht ein gutes Gefühl, etwas für die sterbende Tochter tun zu können, etwas zu tun zu haben, was innigste Nähe und Verbindung schafft. Es macht ein gutes Gefühl, dass andere Personen auf der Palliativ-Station dies wahr- nehmen und über das Hören des Songs auf ihre Weise und mit ihren Emotionen dem Vater und der Tochter Wertschät- zung übermitteln.
Zweieinhalb Jahre später sitze ich an seinem Bett auf der Palliativ-Station. Es ist Mai und mehr als mild draußen. Es fühle sich mehr als komisch an wieder hier zu sein, sagt er, und gleichzeitig habe er gewusst, dass er nirgends sonst so gut aufgehoben sei. Different year, different day, same great shit. Fuck cancer. 26 Grad draußen und bei uns drinnen wird es laut: Rocking around the christmas tree. Unter Tränen lacht er und meint:„Unter all dem Schmerz gibt es doch immer wahnsinnig schöne Zufälle im Leben: Einer davon ist, dass ich Ihnen wieder begegnet bin, und wir hier jetzt singen – Weihnachtslieder im Sommer." Und ich denke: Danke für die wertvolle, lebenstaugliche Erinnerung daran, dass über- all da, wo Schatten ist, auch Licht sein muss. Dass da, wo Tränen sind, auch Lachen ist. Und laute Musik.

Lieder sind vergessene Schätze unserer Gemeinschaft, unseres Zusammenlebens. Ihre Bedeutung ist so vielschichtig wie wir selbst, und diese Vielschichtigkeit ist uns im Alltag nur selten bewusst. In der palliativen Begleitung kann es immer wieder wertvoll sein, diese Vielschichtigkeit in all ihre Facetten ins Bewusstsein zu heben. Und mit ihnen die Symbolkraft und die Metaphern der Liedtexte. In den Liedtexten sind – ähnlich wie in Märchenerzählungen – existenzielle Themen des Menschseins eincodiert. Lieder transportieren zwischenmenschliche Atmosphären auf vielschichtige Art und Weise. So geht es in den meisten Liedern um die Liebe, aber auch um Heimat, Identität, Abschied, Versöhnung, Aufbruch ins Unbekannte, Tod und Trauer – alles Themen, die Menschen am Ende ihres Lebens zutiefst beschäftigen. Lieder sind Begleiter beim Abschied und bilden gleichzeitig eine Brücke zum Leben. Dort, wo es uns gelingt, diese Brücke wachsen zu lassen, können Lieder zu einem Anker der Sicherheit werden. Lieder helfen trauern. Sie tun dies in all ihren Facetten in der Vielschichtigkeit eines jeden Trauerprozesses: Sie halten Angst, Ambivalenz, Aggression, Verwirrung, Hoff- nung, Lachen, Weinen, Straucheln aus – was immer an Emotionen da ist, die Lieder sind es auch. Und wenn es laut werden soll, dann „darf“ es auch das. Die Musiktherapeutin Monika Baumann sagt dazu: „Trauern ist eine Kunst und braucht künstlerischen Ausdruck im weitesten Sinne. Zum Trauern brauchen wir innere und äußere Räume, in denen wir uns unserer Liebe bewusst werden zu dem, was wir betrauern". Es ist an uns, offen für die Symbole unseres Lebens-Soundtracks zu sein, und sie möglicherweise als Steine einer Brücke, als Hilfe zum Trauern für Zugehörige zu verstehen. Danke für die wertvolle, lebenstaugliche Erinnerung daran, dass überall da, wo Schatten ist, auch Licht sein muss. Dass da, wo Tränen sind, auch Lachen ist. Und laute Musik.

Musik:
"Back and Forth" by Lane King @artlist.io
"Wonderful Christmas" by Wolf Samuels @artlist.io
"Telling Stories" by Borrtex @artlist.io

Elvis und das Herz aus Holz

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Sie musste ihre Heimat verlassen, als sie gerade elf Jahre alt war. Ihre Mutter habe ihr und den Geschwistern immer wieder Mut gemacht auf der Reise in die neue, ungewisse Zukunft. In jedem Abschied und in jedem Schmerz, habe sie gesagt, stecke auch Gutes und Schönes und immer ordentlich Platz für Neues. Ein Schlaganfall in Folge ihrer letzten Chemotherapie schränkt nun unsere verbale Kommunikation ein, jedoch nicht das Teilen von Emotionen. Ihre Tochter übernimmt den sprachlichen Part, bekräftigt die Lebenseinstellung, die die Großmutter ihrer Mutter, dem Kind von damals, mitgegeben hat, und erzählt ihrerseits schwingungsfähig von Erinnerungen an besondere Momente. Von den Elvis-Schallplatten, die in ebenso besonderen Momenten hervorgekramt und aufgelegt wurden – vornehmlich dann, wenn „Alleine-Zeit" und Entspannung für die Mutter und mit der Mutter auf dem Programm standen. Sie lacht. „... cause I don ́t have a wooden heart" singe ich auf Wunsch der beiden. Ein hölzernes Herz oder ein Herz aus Stein wie wir sagen würden, haben beide wahrlich nicht. Sie lacht angesichts der Erinnerungen aus vollem Hals, die Tochter weint, angerührt und ausgelöst durch die Musik. In jedem Schmerz steckt auch Gutes und Schönes und immer ordentlich Platz für Neues. Und das Gefäß der Musik hat ordentlich Platz für Tränen und Lachen gleichzeitig. In einem Bildband über Schlesien entdecke ich Fotos ihrer Heimatstadt, die zeigen, wie es dort heute aussieht. Zu dritt knäulen wir uns auf die rechte Seite ihres Hospiz-Bettes und schmökern. Sie weint. Gefühle wollen gefühlt sein. Die Tochter hat den Elvis-Songtext zu „Wooden Heart" im Gepäck, um heute mitsingen zu können, wie sie sagt. Was für ein herrlich englisch-deutsches Kuddelmuddel, was für eine schräge Übersetzung in der Elvis-Version zum Volkslied „Muss i denn zum Städtele hinaus“. Wie stimmig gerade dieser Song ist, fällt mir jetzt in aller Deutlichkeit beim Schreiben auf – sie, die als Kind aus dem schlesischen Städtele hinaus musste, und sie heute, deren Abschied aus dem Leben nun bevorsteht. Aus dem Weinen heraus lachen wir uns schlapp. Mir fällt der Humor von Elvis ein, der Moment, in dem er den vertrauten Text seines Songs „Are you lonesome tonight" abwandelt und Band und Background- Sängerin dies nicht bemerken. Mit Elvis kommen wir aus dem Lachen nicht mehr heraus. Und dann singt sie, die Tochter. Für ihre Mutter. Ganz allein. Spinnt ein inniges Band über die Musik, während ich mich in den Background zurückziehe, ein paar stützende Akkorde mit der Gitarre gebend. Zum Weinen schön. Und mein nicht hölzernes Musiktherapie-Herz lacht. Besser geht’s nicht.

Musik erfüllt psychosoziale Grundbedürfnisse. Sie schafft und erhält Identität. Der Einsatz von biografisch bedeutsamer Musik in der Begegnung mit Zugehörigen vermag Beziehungsräume zu öffnen und Begegnungen zu begünstigen, die im Alltag sonst in dieser Form und auf dieser Ebene nicht möglich scheinen. Hemmschwellen – wie bspw. sich mit in das Hospiz- oder Krankenhausbett zu legen und intensive Nähe zu ermöglichen und zuzulassen – können abgebaut werden. Gemeinsames Singen mit den Zugehörigen und der Einsatz von Musik durch Zugehörige kann eine andere Qualität der Begegnung auslösen und vielleicht auch Herzen erweichen. In jedem Schmerz steckt auch Gutes und Schönes und immer ordentlich Platz für Neues.
’Cause I don’t have a wooden heart.

Musik: "Cutting Teeth", Ben Noble

Rot sind die Rosen

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Zur Musik kann ich recht gut entspannen“, sagt sie. „Und wenn wir singen, kann ich vielleicht gleich mal ein bisschen was essen ohne diese ‚Dinger‘ da“ – sie zeigt auf ihr Sauerstoffgerät und den Medikamenten-Perfusor und lacht. Essen. Entspannen. Frei atmen. Lebensqualität. In der folgenden Woche hat sich ihr Allgemeinzustand deutlich verschlechtert. Keine Nahrungsaufnahme mehr. Ansatzweise veränderte Atmung. Unruhe im Innen und Außen. Ihr bevorstehender Tod ist fühlbar. Zwei Freundinnen sind zu Besuch. Auch sie wirken unruhig, schauen sorgenvoll auf das ‚Ding‘, den Medikamenten-Perfusor. Ich stelle mich vor, lasse mir erzählen, was die Freundinnen verbindet. „Karneval in Kölle“, rufen beide begeistert wie aus einem Munde. Lebensqualität. Einmal im Jahr frei atmen. Was für die Freundinnen das schönste Kostüm gewesen sei, dass ihre sterbende Freundin getragen habe, will ich wissen. Das Jahr, in dem sie als Piratenbraut kostümiert gewesen sei. Auf der Mädchensitzung an Wieverfastelovend. Wie sie es geschafft habe, für alle noch Karten für diese ausverkaufte Prunksitzung zu ergattern. Erinnerungen. Lebensqualität. Entspannung. Sie in ihrem Bett stellt ihre unruhigen Bewegungen ein, atmet tief und gleichmäßig. Um ihren Mund ein Lächeln. Lebensqualität. Ob es Musik gäbe, die sie miteinander verbinde, frage ich. Einen Lieblingskarnevalssong? „Rut sin die Ruse“, rufen beide wie aus einem Munde. Lebensqualität. Und dann singt eine der beiden Freundinnen am Bett. Intuitiv und echt. Sie in ihrem Bett atmet tief und gleichmäßig. Entspannung. Lebensqualität. Die andere Freundin schaut erschrocken und sorgenvoll auf das ‚Ding‘, den Medikamenten-Perfusor. Das sei doch alles gar nicht erwiesen, ob sie überhaupt noch was höre, poltert sie los, den ganzen Quatsch mit der Musik da. Sogar in der neuen „Apotheken - Umschau“ habe es gestanden, dass es gar nicht erwiesen sei, ob sie noch was höre und verstehe, und ob sie dadurch entspannter sei und weniger Schmerzen habe. „So etwas“ singen, das mache man nicht am Sterbebett, und sie hätte ja nun dieses neue‚Ding‘ da, den Medikamenten-Perfusor. Ob es einen besonderen Grund gäbe, warum sie drei so gern miteinander Karneval gefeiert hätten, möchte ich wissen. „Na, weil wir da alle mal so richtig außerhalb unserer Normen und sonstigen Konventionen leben konnten“, rufen beide begeistert wie aus einem Munde. Frei atmen. Lebensqualität. Ob sie sich vorstellen können, Konventionen auch am Sterbebett ihrer Freundin einmal Konventionen sein zu lassen und zu der innig-närrischen Atmosphäre zurückzukehren, die sie verbindet, frage ich. Zaghaftes Nicken. Ob sie die- se Karnevals-Masken und -Fratzen kennen, die gleichzeitig lachen und weinen, frage ich. „Na klar“, rufen beide wie aus einem Munde. Ob sie sich vorstellen können, dass am Sterbebett der Freundin gelacht, laut gesungen, geschimpft und geweint und Fratzen geschnitten werden dürfen, frage ich. Und alles gleichzeitig. Und dass genau das wie im Karneval im übertragenden Sinne „böse Geister“ (die Trauer um die sterbende Freundin) vertreiben helfe, weil man eben nichts vertreibe, sondern weil hier alle vermeintlich närrischen Emotionen gemeinsam feiern. Weil alles sein darf. Zaghaftes Nicken. Auf die ganzen Konventionen zur Wissenschaftlichkeit und ewigen Evidenzbasiererei rund um Musik (-Therapie) kann man in vielen Situationen vielleicht getrost verzichten, sage ich, auf die ehrliche Atmosphäre unter Freundinnen niemals. Und wer weiß? Vielleicht erklingt zur Trauerfeier„Rut sin die Ruse . Aus dem Bett ist ein entspanntes Aufatmen zu hören. Lebensqualität am Lebensende.

Musik: Listed thoughts by Ziv Moran @Artlist.io
Intimacy by Ben Winwood @Artlist.io

Freddy Quinn

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Sie hatte früher eine bekannte Kneipe im Ort. Bei ihr trafen sich alle. Wie im Schlager von Peter Alexander. Nun liegt sie schwach in ihrem Bett. „Richtig cool, eine Kneipe“, sage ich und frage: „Mit einer Musikbox? Da hab ich als Kind so gern Songs ausgewählt.“ Wie der Blitz kehrt Kraft in ihren Körper zurück und sie schnellt wie ein Klappmesser aus dem Bett nach oben: „JA, mit den Songs von Freddy Quinn!“, ruft sie. „So schön, schön war die Zeit" geht es mir durch den Kopf. Ich schnappe mir die Gitarre und versuche, ihre Musikbox zu sein. Sie erinnert den Schlager mit dieser Liedzeile und singt mit ungeahnt kräftiger Stimme. Die Tür geht auf, der Oberarzt möchte die Port-Nadel wechseln, Stationsalltag. Sie, das Klappmesser, klappt in sich zusammen. Angst habe sie jedes Mal davor, Angst vor den Schmerzen, der Situation, der Auseinandersetzung mit ihrer Erkrankung. „Sie hatte eine bekannte Kneipe im Ort. Bei ihr trafen sich alle. Mit Musikbox voll Freddy-Songs", lasse ich den Oberarzt wissen. „So schön, schön war die Zeit“, singt der Oberarzt mit mir gemeinsam, wechselt die Port-Nadel und verlässt das Zimmer. Sie, das Klappmesser, schnellt wieder aus dem Bett nach oben:„Wollte er jetzt nicht die Port-Nadel wechseln?“, fragt sie in meinen Gesang hinein. „Hat er doch“, sage ich. „Da komm ich jetzt nicht drüber weg“, meint sie. „Worüber?“, frage ich. „Darüber, dass Sie nicht gemerkt haben, dass die Nadel gewechselt wurde oder darüber, dass der Oberarzt Freddy Songs mitsingen kann?“
„Beides“, sagt sie. Sie lässt sich entspannt in die Kissen sinken und lacht.‚So schön, schön, war die Zeit.‘

Musik: "The sunset glow" by Tony Petersen @Artlist.io
"Voice" by Oak&Cherry @Artlist.io

Der Klang des Meeres

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Ans Meer sei sie gerne gereist. Italien. „In den 60er Jahren“, sagt sie. Ich sehe sie vor mir, vor meinem inneren Auge, diese hübsche junge Frau in ihren luftigen, bunt-geblümten Som- merkleidern und singe leise den Schlager von Peter Alexan- der und Caterina Valente vor mich hin: „Komm ein bisschen mit nach Italien, komm ein bisschen mit ans blaue Meer."
Sie hat sich aufgesetzt in ihrem Hospiz-Bett und hält die Ocean Drum in ihren Händen, ein Instrument in Form ei- ner Trommel, gefüllt mit kleinen Kügelchen, die wir aus den Geduldsspielen kennen, bei denen man die Kugeln in den passenden Löchern versenken muss. Nur, dass es hier keine Löcher gibt. Gleiten die Kugeln über den Boden des Instrumentes, wenn man die „Meerestrommel“ vorsichtig hin und her bewegt, so erzeugen die Kugeln einen Klang, der an das Anspülen von Wellen erinnert.
„Diese blöden Metastasen im Kopf“, sagt sie.„Ich kann mich gar nicht mehr genau erinnern. Ich vergesse alles. Sind Sie schon einmal Menschen begegnet, die alles vergessen?", fragt sie in unsere musikalische Begegnung und in mein Kopfkino hinein. Und fügt hinzu: „Wie denken Sie über das Vergessen?“
Ich denke, sage ich, dass es gar nicht wichtig ist, ob man sich an Details und das alles erinnert, sage ich, weil ich fest glaube, dass das einzig Bedeutsame ist, wie wir uns in einer Situation gefühlt haben. Und dass man Gefühle gar nicht vergessen kann. Dass sie immer da sind. Und abrufbar. Und dass ich fest glaube, dass nette Menschen dafür sorgen, dass ich mich wohlfühle, wenn ich selbst vergessen habe, wie das geht. Laute Stille. Sie denkt, nein, spürt der Situation und meinen Worten nach, während sie die „Wellen“ mit der Ocean Drum weiterrauschen lässt. Dann sagt sie: „Ken- nen Sie das Gefühl, wenn die Wellen an den Strand spülen, die heißen Füße abkühlen und das Wasser so richtig fest gegen die Beine drückt, dass man beinahe umfällt und einem die Schienbeine davon prickeln?" x

Musik und Klänge erwecken Emotionen und Erinnerungen. Sie sind eng mit dem ältesten Teil unseres Gehirns, dem lim- bischen System, verbunden und auch dann abrufbar, wenn unser Gehirn durch eine Erkrankung in seinen Funktionen ein- geschränkt ist. Musik ist resistent gegen das Vergessen.
Unser Gehirn ist in der Lage, blitzschnell zu entscheiden, ob eine Situation für uns Bedrohung oder Entspannung bedeutet.

Die Einordnung von Klängen hilft ihm dabei. In der Folge kön- nen Klänge – achtsam und mit Kenntnis eingesetzt – Unterstüt- zung beim Schaffen von Situationen bieten, die Sicherheit und Geborgenheit für die uns anvertrauten Menschen bedeuten.

Musikalische Begegnungen im Kontext von Palliative Care sind wie jede andere Begegnung ohne Musik im Kontext von Palliative Care niemals eine Einbahnstraße. Jeder Klang, jedes Lied, jede Improvisation, jede gemeinsam geteilte Musik lässt eine Spur der Erinnerung und eine Perlenkette von Emotionen in meinem Herz und in meinem Kopf zurück. Ich werde mich immer daran erinnern, wie ich mich in diesem einen Moment an ihrem Hospiz-Bett in unserer Begegnung unter ihrer Musik mit der Ocean Drum gefühlt habe. Komm ein bisschen mit ans blaue Meer.

Musik: "Back and Forth" by Lane King @Artlist.io
"Blue Ocean" by Runa Blesvik @Artlist.io

Für die Statik

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„Ach, Musik", sagt er. Vorsichtig lehne ich nach dem Anklop- fen und ebenso vorsichtigem Betreten seines Zimmers meine Gitarre an die Wand und sorge behutsam für ein stimmiges akustisches Milieu – konkret hier: Ruhe, Stille. Erstens, weil keine professionell ausgebildete Musiktherapeutin der Welt (die männlichen Kollegen verstehen sich bitte ebenfalls gemeint) und niemand, der verantwortungsvoll mit dem Medium umgeht, irgendwie, irgendwo und sofort und einfach so drauflos klampft oder gongt und zweitens, weil jede professionell ausgebildete MusiktherapeutIn und jeder, der verantwortungsvoll mit dem Medium umgeht, weiß, dass Klänge bei Menschen mit Glioblastom (Hirntumor) die Krampfanfallneigung verstärken können. Er nestelt an seiner Decke, seine kraftvollen Hände arbeiten in der Luft. In unsere klangvolle Stille hinein stellt er, der engagierte Bauingenieur, fest: „Der Hohlraum hat innen zu viel Druck". „Ich vermute, das ist auf Dauer nicht gut, wenn der Hohlraum innen zu viel Druck hat", sage ich. „Das kannste laut sagen", sagt er. „Da kriegste Probleme mit der gesamten Statik.“ „Was machen wir nun?", frage ich. „Drüber reden", sagt er. Und dann er- zählt er: in klaren Worten und deutlichen Sätzen von den Plänen, die er noch hatte. Davon, wie ihn der Krebs in Null- kommanix von den Füßen gewischt hat. Ihn, den Mathe- matiker und Macher. Der nun redet, um die Statik zu halten und den Druck auszugleichen. Seine Stimme wird leiser, sei- ne Hände ruhiger. Vorsichtig nehme ich die Gitarre zur Hand und spiele leise, klare, stützende, sich stetig wieder- holende Akkorde. Für die Statik. Er schläft entspannt ein, mit ruhiger, gleichmäßiger Atmung.

Unser Gehirn versteht Musik ähnlich wie Sprache – nämlich als Bedeutung tragende Signale. Diese Signale kommen an. Sie werden hör- und erlebbar in unserem ureigensten Ausdrucks- instrument: unserer Stimme. Worte und Musik gehören un- trennbar zusammen. Sie sind eins. Wenn wir über den Einsatz von Musik im Kontext von Palliative Care sprechen, tun wir gut daran, uns bewusst zu machen, dass Musik weit vor dem Einsatz von Klangschalen, dem IPod oder der Frage „Welches Lied singen wir heute?“ beginnt.
Eines meiner größten Geschenke aus den Begegnungen mit Menschen am Lebensende ist das Geschenk der Stille. Ja, Stille kann laut sein und damit gefühlt kaum aushaltbar. Stille kann verunsichern. Doch Stille birgt auch viele Antworten.
So wie jede Musik Pausen hat und Pausen braucht, um weiterzufließen, so ist das Teilen von Stille ein Signal, ein Auftakt für einen neuen Klang, für eine neue Begegnung.

Mögt ihr diese Signale wahrnehmen und erleben, mögt ihr den Sinn hören hinter dem, was Menschen Euch sagen und vor allem der Art, wie sie etwas sagen – und seien diese Menschen 'vermeintlich' noch so verwirrt. Mögt ihr laute Stille und beredtes Schweigen als ein Geschenk erleben. Alles hat Sinn. Stille und Klang. Worte und Musik. Geben wir ihnen Raum und geben wir ihnen die Bedeutung, die sie verdienen. Für die Statik.

Musik: "Back and Forth" by Lane King @Artlist.io
"I will" by Josh Leake @Artlist.io

Intro

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Ich bin Simone Viviane Plechinger, Musiktherapeutin und Fachbuchautorin. Keinem anderen Medium in der Begleitung von Menschen am Lebensende wird meiner Ansicht nach so viel Tiefe und Anerkennung und gleichzeitig so viel Ablehnung und Entwertung zuteil wie der Musik. In meinem neuen Buch „Musik in der Begleitung am Lebensende“, erschienen in der Reihe Palliative Care für Einsteiger im Hospizverlag, lasse ich Euch an meinen Erfahrungen und Gedanken zur Musik teilhaben. Musik ist Ausdruck vom menschlichen Leben und Sterben. Nicht mehr und nicht weniger. Musik ist eine Möglichkeit, im Rahmen von palliativer Begleitung sowohl emotional als auch funktional für den Erhalt von Lebensqualität zu sorgen. Nicht mehr, jedoch auch nicht weniger. Mit diesem Podcast lade ich Euch ein, in die im Buch beschriebenen Fallgeschichten einzutauchen. Ich lade Euch ein, mehr über Musik in der Begleitung von sterbenden Menschen jenseits der gängigen Glaubenssätze zu erspüren.

Musik: "I will" by Josh Leake @Artlist.io

Über diesen Podcast

Ich bin Simone Viviane Plechinger, Musiktherapeutin und Fachbuchautorin. Keinem anderen Medium in der Begleitung von Menschen am Lebensende wird meiner Ansicht nach so viel Tiefe und Anerkennung und gleichzeitig so viel Ablehnung und Entwertung zuteil wie der Musik. In meinem neuen Buch „Musik in der Begleitung am Lebensende“, erschienen in der Reihe Palliative Care für Einsteiger im Hospizverlag, lasse ich Euch an meinen Erfahrungen und Gedanken zur Musik teilhaben. Musik ist Ausdruck vom menschlichen Leben und Sterben. Nicht mehr und nicht weniger. Musik ist eine Möglichkeit, im Rahmen von palliativer Begleitung sowohl emotional als auch funktional für den Erhalt von Lebensqualität zu sorgen. Nicht mehr, jedoch auch nicht weniger. Mit diesem Podcast lade ich Euch ein, in die im Buch beschriebenen Fallgeschichten einzutauchen. Ich lade Euch ein, mehr über Musik in der Begleitung von sterbenden Menschen jenseits der gängigen Glaubenssätze zu erspüren.

von und mit Simone Viviane Plechinger

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